Wie tödlich ist Nikotin?
Weil Pharmakologen einen Fehler über 100 Jahre unreflektiert abgeschrieben haben, ist ein Mythos rund um die Tödlichkeit des Nikotins entstanden. Der Toxikologe Bernd Mayer hat recherchiert und die Quelle entdeckt…
Nikotin, so weiß man, oder glaubt man zu wissen, ist ein äußerst gefährliches Nervengift. Doch ab welcher Menge ist es eigentlich tödlich? Diese Frage stellte sich auch Bernd Mayer. Der an der Universität Graz lehrende Toxikologe kannte selbstverständlich die aus Lehrbüchern bekannte Menge von 60 Milligramm, die für einen Erwachsenen tödlich sein sollte. “Diese Menge an Nikotin entspricht etwa einem Tropfen reines Nikotin oder dem Nikotingehalt des Tabaks von 5 Zigaretten. Demnach wäre Nikotin ähnlich giftig wie Kaliumcyanid («Zyankali»), dem Stereotyp eines Werkzeugs für Mord und Selbstmord”, schreibt Mayer. Das Verschlucken von 5 Zigaretten wäre für einen Erwachsenen tödlich, bei Kleinkindern könnte bereits eine Kippe ausreichen. Entsprechend häufig wird in den sozialen Medien vor den achtlos weggeworfenen Zigarettenresten auf Kinderspielplätzen gewarnt, obwohl kein einziger Fall einer ernsthaften Vergiftung dokumentiert ist. Es handelt sich hier ganz offensichtlich um eine moderne Sage, oder – im aktuellen Jargon – um „urban legends“ oder „fake-news“. Woher aber stammten diese falschen Angaben? Mayer machte sich auf die Suche und nach vielen Schleifen landete er bei einem Lehrbuch der “Pharmacologie”, das der Leiter des Pharmakologischen Institutes der Universität Wien im Jahre 1856 (!) veröffentlicht hatte. “Demnach hatten die Versuchspersonen bereits nach Aufnahme von 4 mg Nikotin, was der Menge in einem Nikotin-Kaugummi entspricht, schwerwiegende Symptome bis hin zu Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit. Welcher Fehler den damaligen Experimentatoren unterlaufen ist, lässt sich heute nicht mehr eruieren, aber geringe Mengen an Nikotin verursachen definitiv nicht derart schwerwiegende Symptome.” Die Schätzung der letalen Dosis beruhte also, so Mayer, auf einem offensichtlich fehlerhaften Bericht, wurde aber über 100 Jahre lang von Lehrbuchautoren unreflektiert abgeschrieben und noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts als allgemein gültig akzeptiert.
Somit konnte Mayer die letale Dosis für Nikotin neu abschätzen.”Dazu lieferten in der Fachliteratur beschriebene letale und fast letale Vergiftungsfälle wertvolle Hinweise, in denen die aufgenommene Menge an Nikotin und dessen Konzentration im Blut dokumentiert waren. Mit diesen Informationen konnte ich den Grenzwert für die letale Dosis abschätzen, wobei ich den ursprünglich errechneten Wert von 2 Gramm vorsichtshalber auf 0,5 bis 1 Gramm reduziert hatte. Meine Schätzung wurde im Oktober 2013 online und im Jänner 2014 in Papierversion publiziert und ist mittlerweile allgemein akzeptiert [46]. Ausnahmen sind Gesundheitsorganisationen wie die US Centers for Disease Control (CDC), die einen langjährigen Kampf gegen Nikotin führen und alle Informationen unter den Teppich kehren, die diesen Kampf gefährden könnten.”
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